Alkoholsucht: Wundermittel Baclofen? Eine Sendung bei ARTE

Am 31. Oktober 2014 wurde bei ARTE die Sendung „Alkoholsucht: Wundermittel Baclofen?“  ausgestrahlt. Die Reportage entstand insbesondere im Umfeld der klinischen und doppelt verblindeten und gegen Placebo kontrollierten Studie „BALOVILLE“.  Die Ergebnisse der Studie lagen zum Zeitpunkt der Ausstrahlung noch nicht vor. Die Reportage auf diesem recht prominenten Sendeplatz ist sicher zu begrüßen, es gibt an ihr aber auch einiges zu kritisieren.
(pn, 23.04.2015)

Zunächst einmal ist der Begriff „Wundermittel“ in der Medizin nicht unbedingt angebracht. Die Wirksamkeit eines Medikaments entfaltet sich nämlich nicht durch „Wunder“, sondern durch wissenschaftlich nachweisbare Mechanismen. Eigentlich spricht man einerseits von Medikamenten, die „gut funktionieren“, und andererseits von Medikamenten, die das weniger gut tun. Baclofen gehört unseres Erachtens, jedenfalls was die Therapie der Alkoholabhängigkeit anbelangt, zu Ersteren. Und dann, …

Bei Minute 17:30, sagt Prof. Didier Sicard, ehemaliger Präsident und heutiger Ehrenpräsident der französischen Ethikkommission (CCNE):

Es ist auch eine moralische Frage. Man kann doch nicht mit dem Trinken aufhören, ohne zu leiden, wo kämen wir denn da hin? Wer seinem Körper schadet, muss dafür bezahlen. Da bin ich einverstanden.

Diese Argumentation ist schon etwas befremdend. Bei Personen mit z.B. Diabetes oder Bluthochdruck wird man ja auch nicht sagen, dass diese an ihrer Krankheit „selbst schuld“ sind, obwohl sie durch ihre Lebensweise möglicherweise oft selbst etwas zu ihrer Krankheit beigetragen haben. Insbesondere wird  Niemand ihnen dann aber Medikamente verweigern und von den Patienten fordern, dass eine medikamentöse medizinische Behandlung nicht „ohne zu leiden“ vertretbar sei.

Bei Minute 33:40 die Stimme aus dem Off:

Was kommt nach Baclofen? Führen die extrem hohen Dosen, die die Patienten von ihrer Alkoholsucht heilen sollen, nicht zu einer neuen Abhängigkeit?

Baclofen führt zu keinerlei Abhängigkeit im Sinne einer Sucht, es hat auch keinerlei rauschähnliche Wirkung. Das Medikament kann jederzeit und ohne Entzugserscheinung abgesetzt werden (Ausschleichen innerhalb ca. 10 bis 20 Tagen). Und um wieder die Analogie zu anderen chronischen Erkrankungen anzuführen, wie z.B. Diabetes oder Bluthochdruck: Auch diese Patienten sind im Grunde lebenslang von ihren Medikamenten abhängig, ohne dass man da von Tablettensucht oder -Abhängigkeit spricht.

Und gleich danach Dann Prof. James C. Garbutt:

Macht Baclofen süchtig? Eine schwierige Frage. Wenn sich jemand an seine tägliche Baclofen-Dosis gewöhnt hat, möchte er nicht mehr darauf verzichten. Aber ist das eine Sucht? Verliert er die Kontrolle über die Einnahme? Oder würde er sich seinen Stoff auf der Straße beschaffen?

Baclofen hat keinerlei rauschähnliche Wirkung und führt auch nicht zu einer Toleranzentwicklung, also dass man immer höhere Dosen von dem Medikament benötigen würde. Deshalb kann man auch nicht die „Kontrolle über die Einnahme“ verlieren, wie Garbutt vermutet. Und auch mal gegengefragt: Was würde ein Diabetiker machen, wenn er sein lebensnotweniges Medikament nicht mehr auf legalem Weg erhalten würde? Würde er sich dann vielleicht nicht auch „seinen Stoff auf der Straße beschaffen“? Möglicherweise schon. Aber wäre er dann ein „Süchtiger“ oder „Junkie“?

Bei Minute 34:48 dann Dr. Gilles Boëtsch, ein Anthropologe und Präsident des Wissenschaftsbeirates des französischen „Centre national de la recherche scientifique“ (CNRS):

Es ist falsch zu glauben, man bräuchte nur die Symptome auszumerzen und die Alkoholsucht wäre gut. Dann schlittern Sie direkt in die nächste Sucht. Daher denke ich, kann dieses Medikament in einer akuten Situation gewiss eine große Hilfe sein. Aber sobald es zur chronischen Einnahme kommt, wird es absurd, denn dann brauchen wir demnächst vielleicht ein Medikament gegen Baclofen, weil wir süchtig danach geworden sind. Ich bin weg vom Alkohol, aber dafür brauche ich Baclofen. Welches Medikament nehme ich nun gegen die Symptome von Baclofen?

Hier kann man wieder dieselben Gegenargumente  wie Oben anführen.

Bei Minute 39:20 sagt Dr. Bertrand Nalpas, Suchtmedizinischer Forschungsdirektor am französischen „Institut national de la santé et de la recherche medicale“ (INSERM):

Bislang bewegen wir uns im Bereich der Erforschung. Und es wäre schön, wenn sich das ändert. Damit wir Baclofen guten Gewissens verschreiben können, ohne unsere Patienten zu gefährden. Ich persönlich verschreibe kein Baclofen. Ich weigere mich bis heute. Und wenn mich jemand danach fragt, sage ich: Guter Mann, gute Frau, ich will sie doch nicht in Gefahr bringen.

Arzt und / oder Therapeut sind „freie Berufe“, welche jeder Befähigte und Berechtigte, und dies zu Recht, nach bestem Gewissen und freiem Ermessen ausüben kann. Es denken und handeln jedoch, ebenfalls zu Recht, nicht alle so, wie Dr. Bertrand Nalpas. Laut einer Erhebung der französischen staatlichen Krankenversicherung CNAMTS  verschrieben bereits im Jahre 2012 insgesamt 10‘000 französische Ärzte ihren Patienten Baclofen zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit, so jedenfalls der Vertreter der CNAMTS, Dr. Alain Weill, an einem Kolloquium am 3. Juni 2013.

Bei Minute 49:16 dann wieder Prof. James C. Garbutt:

Wenn wir uns das Resultat dieser Studie anschauen, stellen wir fest, dass sich der Zustand bei den meisten verbessert hat. Das erlebt man häufig bei klinischen Studien, vor allem bei Verhaltensstudien, weil die Betroffenen mit jemandem reden können, der ihnen zuhört, der sie ernst nimmt und sich um sie kümmert. Wenn sie die Fragen zu ihrem Alkoholkonsum ausfüllen, bringt sie das zum Nachdenken und vielleicht sogar dazu, ihr Trinkverhalten zu verändern.

So weit, so eigentlich korrekt. Dann fährt Garbutt aber fort:

Als wir die Verblindung am Ende auflösten, und die Resultate von Baclofen und Placebo verglichen, waren die Ergebnisse der beiden Gruppen exakt gleich. Allen Teilnehmern ging es besser. Also hat nichts bewiesen, dass Baclofen zur Behandlung der Alkoholsucht besser geeignet ist als das Placebo.

Hier entsteht nun beim Zuschauer der Eindruck, es handele sich bei dieser Aussage um die Studie BACLOVILLE, um welche sich die Sendung ja insgesamt dreht. Die Resultate von Baclofen lagen jedoch zum Zeitpunkt der Ausstrahlung längst noch nicht vor. Gemeint haben kann Garbutt eigentlich nur seine eigene Studie von 2010. Diese wurde allerdings mit einer viel zu geringen Dosis von lediglich 30 mg / Tag durchgeführt. Die aktuelle Studie (BACLOVILLE) hingegen arbeitete mit bis zum Zehnfachen dieser Dosierung.

Hier nun eine im obigen Sinne kommentierte Version der ARTE-Reportage auf Youtube:

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