Artikel in der Printausgabe des „STERN“ vom 31. Juli 2014

Am 31. Juli 2014 erschien in der Printausgabe des „STERN“ ein Artikel zu Baclofen. Hier ein Auszug aus dieser Zeitschrift.
(pn, 14.08.2014)

Die Pille für Alkoholiker

Frankreich hat das Medikament Baclofen zur Therapie der Trunksucht zugelassen.
Wird Deutschland folgen?

Rotwein. Portwein. Martini. Sechs Gläser am Tag. Manchmal auch neun. Die Französin Sylvie Imbert war süchtig nach Alkohol. Mehr als 20 Jahre lang trank sie zu viel und fand keinen Weg aus der Abhängigkeit. Bis sie von einem Präparat las, das ihr bis dahin vollkommen unbekannt war. Baclofen. Diese Pille, so hieß es in dem Bericht, könne das Verlangen nach Alkohol unterdrücken. Sylvie Imbert probierte das Medikament aus, obwohl es für die Behandlung ihrer Sucht nicht zugelassen war. Ein Jahr später war sie überzeugt: Baclofen wirkt. Nun hatte die 57·Jährige ein neues Ziel in ihrem Leben. „Ich wollte, dass die Substanz als Therapie der Alkoholabhängigkeit zugelassen wird“, sagt Sylvie Imbert. Sie gründete einen Verein, der über die Wirksamkeit von Baclofen informiert und bereits 8ooo Mitglieder hat. Mitte Juni kam sie ihrem großen Ziel einen gewaltigen Schritt näher: Die französische Gesundheitsministerin Marisol Tonraine verkündete, dass die Kosten der Behandlung mit Baclofen künftig erstattet werden. Bereits seit März 2014 dürfen Ärzte das Medikament zur Therapie der Alkoholabhängigkeit verschreiben, wenn auch nur unter strengen Auflagen. Nun dürfte die Diskussion um die Anti-Alkohol-Pille auch in Deutschland beginnen. Die Substanz selbst ist Medizinern zwar längst bekannt und teilweise erforscht: Bereits 1978 wurde sie in Deutschland zugelassen, allerdings für die Behandlung schwerer Krämpfe bei Nervenerkrankungen, zum Beispiel bei Multipler Sklerose. 2004 probierte der französische Kardiologe Olivier Ameisen, selbst alkoholabhängig, den Wirkstoff an sich aus. Sein Buch „Le dernier verre“ („Das letzte Glas“), in dem er über die positive Wirkung des Medikaments bei seinem Entzug schrieb, führte in Frankreich zu hitzigen Debatten.

„Als Ameisen mir davon berichtete, beschloss ich, die Therapie bei meinen Patienten zu erproben“, sagt Renaud de Beaurepaire, Suchtmediziner und Psychiater in Villejuif und der erste Mediziner in Frankreich, der seine Patienten mit Baclofen behandelt hat. Seit 2006 waren es mehr als 6oo Fälle. Damit bewegte er sich in einer Grauzone. In Frankreich wie auch in Deutschland ist der sogenannte Off-Label-Gebrauch von Medikamenten zwar möglich: Ärzte dürfen Präparate für eine Erkrankung verschreiben, für die es nichtzugelassen ist. Aber nur ausnahmsweise! Der Kardiologe Ameisen hatte das Medikament jedoch in Frankreich so populär gemacht, dass dort schätzungsweise 50’000 Patienten Baclofen erhalten haben. Eine aktuelle Umfrage unter Suchtmedizinern ergab, dass bislang immerhin drei Viertel manchmal Baclofen bei ihren Patienten einsetzten. Ohne dass Leitlinien für die Behandlung existierten, ohne dass Nebenwirkungen regelmäßig gemeldet wurden. „Es war höchste Zeit, die Behandlung mit Baclofen zu reglementieren“, sagt Philippe Jaury, Suchtmediziner an der Universität Paris Descartes. Wie viele alkoholabhängige Patienten in Deutschland Baclofen erhalten, ist unklar. Die Anzahl der Verordnungen ist in den vergangeneu Jahren allenfalls moderat angestiegen, so die Ergebnisse des jährlichen Barmer-GEK-Arzneimittelreports. „Hierzulande sind die Ärzte viel zurückhaltender, und die Patienten empören sich nicht laut genug“, klagt Cornelia Weigel, Ärztin am Suchthilfezentrum Gießen. „Das Medikament sollte auch in Deutschland für alle Patienten zur Verfügung stehen, die es einnehmen möchten“, fordert sie.

Tatsächlich spaltet die Debatte um das Medikament die Ärzteschaft, in Frankreich wie in Deutschland. Die einen argumentieren, Baclofen sei in der klinischen Praxis so erfolgreich, dass es den Patienten nicht vorenthalten werden dürfe. Die anderen sagen, dass mithilfe der bisherigen Therapien immerhin etwa die Hälfte der Patienten mindestens ein bis zwei Jahre lang keinen Alkohol mehr trinke. „Uns stehen bereits gut wirksame Medikamente zur Verfügung“, sagt Tom Bschor, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie der Schlosspark-Klinik in Berlin. Doch im Gegensatz zu den herkömmlichen Präparaten soll Baclofen das Verlangen nach Alkohol besonders effektiv unterdrücken. Derzeit laufen gleich drei Studien in Frankreich und Deutschland, um den genauen Mechanismus und die Wirksamkeit der Substanz zu prüfen, so zum Beispiel an der Charite in Berlin. Anfang 2015 sollen erste Ergebnisse vorliegen. In allen drei Studien erhalten die Patienten deutlich höhere Dosierungen des Medikaments als in früheren Untersuchungen. „Es gibt erste Hinweise darauf, dass Baclofen dann womöglich wirksamer ist“, sagt der Psychiater Christian Müller, der die Studie gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Heinz an der Charité leitet. Die beiden wollen auch untersuchen, wie häufig bekannte Nebenwirkungen wie starke Schläfrigkeit und Muskelschwäche bei hoher Dosierung auftreten. „In jedem Fall wird Baclofen auch bei Nachweis der Wirksamkeit nur ein weiterer Baustein in der Therapie der Alkoholabhängigkeit sein“, sagt der Psychiater. Neben einer Psychotherapie etwa oder der Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe. Für die Französin Sylvie Imbert jedenfalls war Baclofen die Rettung. Mit 16 Jahren hatte sie begonnen, Alkohol zu trinken, mit 30 Jahren war sie davon abhängig geworden. Und mit 52 Jahren fand sie einen Weg aus der Sucht. Ob sie einfach Glück hatte oder das Baclofen ihr tatsächlich half, werden die Ergebnisse der Studien bald zeigen.

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