Behandlung der Alkoholabhängigkeit in der Praxis

Dr. Albrecht Ulmer, Stuttgart | Hepatitis & more | 01/2013 | S. 35-37

Die suchtmedizinische Versorgung von Alkoholabhängigen in Deutschland ist defizitär. Es fehlen spezialisierte Ärzte und gut wirksame Medikamente. Die wenigen zugelassenen Antagonisten haben wenig durchschlagenenden Effekt. Möglicherweise besser wirksame agonistische Substanzen sind in der Praxis bisher kaum einsetzbar. Baclofen scheint eine interessante Mittelstellung einzunehmen.
(pp, 12.10.2014)

Alkoholabhängigkeit ist eine der großen Volkskrankheiten. Sie ist etwa 10-mal so häufig wie die Heroinabhängigkeit, dennoch gibt es nicht mal 0,1-mal so viele Ärzte, die sich ähnlich darauf spezialisiert haben wie substituierende Ärzte auf die Behandlung der Heroinabhängigkeit. Hintergrund der absolut defizitären medizinischen Versorgung von Alkoholabhängigen sind fehlende Standardisierung und Honorierung spezialisierter Leistungen, abschreckende Regelungen bei der Substitution und jede Menge Schwierigkeiten mit diesen weithin ungeliebten Patienten. Von der eigenen Insuffizienz ablenkend, begegnen viele Mediziner den Patienten mit einer diskriminierenden wie falschen „Selber-Schuld“-Haltung, die auch in der Gesellschaft weit verbreitet ist. Die Patienten bleiben mit der schweren, chronischen Krankheit medizinisch allein gelassen – eine wesentliche Grundlage für die vielen schlechten Verläufe, die hohe Belastung von Krankenhäusern
durch diese Krankheit und die enormen volkswirtschaftlichen Kosten, die in Deutschland auf ca. 27 Milliarden Euro/Jahr geschätzt werden (Jahrbuch Sucht 2013).

QAAT ein neues Netzwerk

Rein fachlich sind Insuffizienz und mangelnde Entwicklung der Behandlung von Alkoholabhängigen nicht begründet. Schon jetzt wissen wir, dass wir die Krankheit viel besser behandeln können
als es fast überall geschieht. Wie bei allen chronischen Krankheiten muss das Gros der Behandlung ambulant geschehen. Um das zu verbessern, haben wir dieses Jahr in der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) das Netzwerk „Qualifizierte ambulante Alkoholabhängigkeitsbehandlung“ (QAAT) gegründet.

Ambulante Entzüge

Ebenfalls wie bei vielen anderen chronischen Krankheiten gliedert sich die Behandlung in die Behandlung akuter Exazerbationen und eine chronische Dauer- oder Basisbehandlung. Für Akutbehandlungen sind qualifizierte ambulante Entzüge unverzichtbar, aber viel zu selten angeboten. Die Notwendigkeit stationärer Entzüge lässt sich damit auf weniger als 10 % der schwer Betroffenen senken. Selbstverständlich ist das auch ein wesentlicher Beitrag dazu, Patienten überhaupt und deutlich früher behandeln zu können.

Die Basisbehandlung

Die eigentliche Kunst beginnt aber erst nach dem Entzug. Mit Medikamenten und einem interdisziplinär zugewandten Ansatz lassen sich Verlauf und Prognose deutlich verbessern.

Antagonisten

Das gilt schon für die zugelassenen, wenig pharmazeutische Innovation repräsentierenden Substanzen Disulfiram, Acamprosat, Naltrexon und Nalmefen. Diese Substanzen sind oft ein guter Einstieg: Relativ wenig Gefahren, keine Abhängigkeit – in vielen Fällen entsteht eine qualifizierte, vertrauensvolle Beziehung als wichtige Basis, um die mit der Suchtkrankheit verbundenen Probleme einer qualifizierten Bearbeitung zuzuleiten. Qualifizierte Suchtmedizin ist immer Teil einer Netzstruktur, und macht auch nur so wirklich Freude. Allerdings haben diese antagonistischen Substanzen einen so geringen Effekt, dass sie sich in der Praxis wenig durchgesetzt haben. Ob es Nalmefen anders ergehen wird, bleibt abzuwarten. Ein ärztliches Spezialistentum haben die Substanzen bisher nicht begründet. Disulfiram verliert nach Marktrücknahme in Deutschland in Kürze seine Verkehrsfähigkeit.

Agonisten

Ungleich wirksamer erscheinen nach Praxisberichten und vorwiegend italienischen Studien agonistische Substanzen, die den Betroffenen einen Teil der erstrebten Wirkung des Alkohols
geben, ohne vergleichbar zu schaden. Die wichtigsten, bisher bekannten sind :

• GHB (Gamma-Hydroxybuttersäure, ein GABA A erger Agonist), bisher zur Basisbehandlung praktisch nur in Italien eingesetzt, in Österreich auch zum Alkoholentzug, in Deutschland nur zur
Behandlung von Narkolepsie verfügbar, ansonsten als Suchtmittel („liquid ecstasy“) oder als „K.O.-Tropfen“ international sehr umstrittenen (Caputo 2011)
• Dihydrocodein (DHC), in dieser Indikation nur von einzelnen, niedergelassenen, deutschen Suchtmedizinern eingesetzt (Ulmer 2012)
• weitere Opioide, insbesondere in Einzelfällen Buprenorphin • Clomethiazol, mit therapeutischer Systematik m.W. nur in unserer Praxis eingesetzt.

Wegen des Potentials, davon abhängig zu werden, und hohen Gefahren bei falschem Gebrauch begegnen Ansätze mit diesen Substanzen, die auch in unserem Praxiserleben bei weitem am effektivsten sind, überwiegendem Misstrauen, ja regelrechter Verbannung in Fachwelt und Gesellschaft. Ihre Entwicklung stagniert. Die Forschung macht bisher weitgehend einen Bogen darum. Zugelassen in dieser Indikation ist bisher keine dieser Substanzen, auch nicht die folgende:

Baclofen

Eine wichtige Mittelstellung zwischen diesen als zu gefährlich eingestuften Agonisten und den relativ wirkarmen Antagonisten scheint Baclofen zuzukommen. Selbst ein GABA B erger Agonist vermittelt es leichte Entspannung und leichte Anxiolyse, die sich bei vielen Alkoholabhängigen praktisch ohne eigenes Abhängigkeitspotential suchtmindernd auswirken. Wie bei den meisten wirksamen Substanzen gibt es erhebliche individuelle Unterschiede. Teilweise berichten die Betroffenen anhaltend von einer völligen Auslöschung des Verlangens nach Alkohol. Sie erleben den Behandlungserfolg als heilungsähnlich. Populär wurde dieser Effekt durch den 2005 publizierten Selbstversuch des Kardiologen Ameisen, der sich mit bis zu 270 mg/d behandelte. Schon seit dem Jahr 2000 liegt zu Baclofen gegen Alkoholabhängigkeit eine Reihe von Publikationen aus der italienischen Arbeitsgruppe Addolorato, Caputo, Colombo et al. vor. Alle Arbeiten dieser Arbeitsgruppe zeigen, dass schon bei 30 mg/d deutlich lindernde und teils heilungsähnliche Effekte gegenüber der Alkoholabhängigkeit möglich sind. Diese Befunde sind inzwischen in unzähligen
Publikationen bestätigt, teils mit Hinweisen, dass, wie bei Ameisen, individuell deutlich höhere Dosierungen für diese Effekte nötig sind. Der Informationsstand ist nicht einheitlich. Es gibt auch
Studien, die keinen Unterschied gegenüber Placebo ergaben (z. B. Carbutt et al. 2010). Kollegen der italienischen Arbeitsgruppe haben mir am Rande von Konferenzen mitgeteilt, dass sie GHB
deutlich mehr schätzten als Baclofen. Mir geht es mit DHC ähnlich. So umfassend, wie wir dessen Wirkung immer wieder erleben, habe ich noch bei keinem unserer bisher 11 Baclofen-Patienten (Dosierungen bis 300 mg) eine durchgreifende Wirkung erlebt. DHC ist allerdings bei der ungeregelten Behandlung von Opiatabhängigen mit einer Reihe von Todesfällen einhergegangen (Penning et al. 1993). Eine vergleichbare Gefahr ist von Baclofen nicht berichtet. Andererseits sind inzwischen so viele beeindruckende Ergebnisse publiziert, dass man der Forderung von C. Weigel, diese wichtige Substanz Alkoholabhängigen nicht länger vorzuenthalten, nur ausdrücklich beipflichten kann, insbesondere angesichts der Schwere des Krankheitsbildes und der geringen Risiken der Substanz. Frau Weigel unterstrich diese Forderung 2011 auf einem Poster beim DGS-Kongress mit einer Auswertung bei 69 Patienten, die Baclofen länger als 3 Monate eingenommen hatten: 69,2 % hatten dann einen unbedenklichen Alkoholkonsum nach WHO-Kriterien, mehr als 55 % völlige Abstinenz erreicht, ähnlich viele gaben das Verschwinden jeglichen Alkoholcravings an. 93,9 % berichteten Angstfreiheit unter Baclofen, und 96,9 % äußerten sich mit der Wirkung von Baclofen zufrieden (Weigel 2012). Angesichts dieser und weiterer ähnlicher Publikationen stellt sich die Frage, ob das Zur-Verfügung-Stellen wichtiger Medikamente, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gerade bei Erkrankungen mit so wenigen effektiven Therapieoptionen wie der Alkoholabhängigkeit nicht zu viele, hohe Hürden überwinden muss.

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