„Therapiekritik“ im Arznei-Telegramm

In der März-Ausgabe des Arznei-Telegramms erschien unter der Überschrift „Therapiekritik: BACLOFEN (LIORESAL, GENERIKA) BEI ALKOHOLABHÄNGIGKEIT?“ ein Text, der zu Verunsicherung bezüglich der Verschreibung nicht nur in der Ärzteschaft führte, und der deshalb im Baclofen-Wiki näher betrachtet werden sollte. Auch, weil alle genannten Referenzen dieses Arznei-Telegramm-Textes in unserem umfangreichen Archiv zu finden sind, und dadurch für interessierte Lesende die Möglichkeit besteht, sich ihre eigene „Therapiekritik“ zu bilden.

a-t

 

Konkret geht es um folgenden Absatz:

a-t: „Inzwischen mehren sich Berichte über Schadwirkungen von hochdosiertem Baclofen zur Alkoholentwöhnung, darunter lebensbedrohliche Intoxikationen. Alkoholabhängigkeit ist in hohem Maße mit suizidalem Verhalten assoziiert. In mehreren Fallserien werden Suizidversuche alkoholabhängiger Patienten mit Baclofenüberdosis berichtet, darunter ein tödlicher Verlauf (16-19). Entwicklung einer Baclofenabhängigkeit mit Dosissteigerung bis auf 500 mg pro Tag ist beschrieben (20). Auch Rückfälle gefährden alkoholabhängige Patienten unter Therapie mit hochdosiertem Baclofen. Beschrieben sind Krampfanfälle und schwere Sedierung bei gleichzeitigem Alkoholkonsum (21,22). Bei abruptem Absetzen des Gamma-Aminobuttersäure (GABA)-Analogs droht zudem ein Entzugssyndrom, das mit Verwirrtheit und Halluzinationen ähnlich wie beim akuten Alkoholdelir verlaufen kann (23).“

Diese so genannte „Therapiekritik“ ist es „wert“, einmal Satz für Satz unter die Lupe genommen zu werden:

a-t: „Inzwischen mehren sich Berichte über Schadwirkungen von hochdosiertem Baclofen zur Alkoholentwöhnung, darunter lebensbedrohliche Intoxikationen.“

Fakt ist, dass vor allem die positiven Berichte über Behandlungserfolge mit Baclofen bei Alkoholabhängigkeit zunehmen. Es sind im selben Zeitraum um ein Vielfaches mehr Beiträge publiziert worden, die die Baclofenbehandlung bei Alkoholabhängigkeit ausdrücklich unterstützen als umgekehrt – unter anderem ohne großen Aufwand nachzuvollziehen auf den Archivseiten dieses Baclofen-Wiki. Die Wahrnehmung bezüglich der Publikationen zu Baclofen als Therapieoption bei Alkoholabhängigkeit scheint also in der Arznei-Telegramm-Redaktion sehr selektiv zu sein.

Die Verkaufszahlen von Baclofen haben sich seit 2008 (am 09.10.2008 erschien Olivier Ameisens Buch „Le dernier verre“ in Frankreich) nahezu vervierfacht. Dass sich im Zuge der weiteren Verbreitung des Medikamentes – noch dazu mit einem komplett neuen Anwendungsgebiet – auch die Wissenschaft wieder vermehrt für das fast schon in Vergessenheit geratene Baclofen interessiert, ist eine logische Konsequenz. Ergo nehmen auch die Forschungen und Publikationen zum Thema zu.

Dass dabei auch Veröffentlichungen entstehen, die Sicherheit und Wirkung des Medikaments hinterfragen, ist gut. Die kritische Auseinandersetzung mit neuen medizinischen Entdeckungen ist notwendig und wichtig. Bedenklich wird es aber, wenn man sich in einer so genannten „Therapiekritik“ von vornherein auf eine Seite schlägt, vor diesem Hintergrund selektive Literaturauswahl betreibt und das noch nicht mal kennzeichnet. Das widerspricht wissenschaftlichen Standards und ist methodisch inkorrekt.

a-t: „Alkoholabhängigkeit ist in hohem Maße mit suizidalem Verhalten assoziiert.“

Dass alkoholabhängige Menschen eher zu suizidalem Verhalten neigen, ist unbestritten. Hat aber erstmal überhaupt nichts damit zu tun, ob Baclofen ein wirksames und vertretbares Mittel zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit ist. Rhetorisch ist dieser einleitende Satz natürlich ein geschickter Schachzug vermeintlicher Baclofen-Gegner, weil ein möglicher Suizidversuch mit Medikamentenüberdosis einen „negativen“ Bogen zu Baclofen ermöglicht, was im Folgenden dann auch genutzt wird:

a-t: „In mehreren Fallserien werden Suizidversuche alkoholabhängiger Patienten mit Baclofenüberdosis berichtet, darunter ein tödlicher Verlauf (16-19).“

Ganze vier (!) vermeintliche Evidenzen aus den letzten zwei Jahren hat das Arznei-Telegramm gefunden, die über die Einnahme von Baclofen in suizidaler Absicht berichten. Mal salopp formuliert: Wer sich wirklich das Leben nehmen möchte, sollte sich ein anderes Medikament suchen. Mit Baclofen klappt das nämlich in der Regel nicht. Auch bei dem im Arznei-Telegramm erwähnten Todesfall ist es mehr als fraglich, ob man Baclofen für den Tod des 46-jährigen Mannes, von dem dort berichtet wird, verantwortlich machen kann (alle Literaturangaben aus dem Arznei-Telegramm sind am Ende des Beitrags verlinkt).

Wer sich mit einer Medikamentenüberdosis umbringen möchte, findet wohl immer einen Weg, Medikamente zu besorgen. Nach Angaben mehrerer Giftnotruf-Zentralen lag Paracetamol zwischen 1997 und 2005 mit deutlichem Abstand auf Platz eins unter allen Medikamenten, die bei Selbstmordversuchen (mit tödlichem und nicht-tödlichem Ausgang) geschluckt wurden. Und dieses Medikament unterliegt – im Gegensatz zu Baclofen – nicht mal der Verschreibungspflicht.

Unterm Strich bedeutet die verquere Logik des Arznei-Telegramms, dass allein die Möglichkeit, ein Medikament in Selbstmordabsicht missbrauchen zu können, dazu führen sollte, dass damit nicht mehr therapiert werden darf. Wie viele medikamentengestützte Therapien da wohl übrig blieben, wenn man das zu Ende dächte…?

Dazu kommt, dass Baclofen bei der Mehrzahl der beschriebenen Fälle nur eines von mehreren Medikamenten war, die in suizidaler Absicht gleichzeitig eingenommen wurden, was die Vermutung nahelegt, dass „einfach“ geschluckt wurde, was gerade verfügbar war. Und hier mag tatsächlich ein berechtigter Kritikpunkt liegen: Die ambulante Therapie mit hochdosiertem Baclofen kann mitunter zu einem recht hohen Vorrat an Tabletten führen. Auch wenn Baclofen in Überdosis für gemeinhin nicht tödlich ist, so können bei Intoxikation doch komatöse Zustände, Bewusstseinstrübung, Atemdepression, Aspiration, Bradykardie etc. auftreten. Diesbezüglich wäre ein Hinweis an Verschreibende, das Medikament beispielsweise in regelmäßigen Turnussen statt in Vorratsrationen zu verordnen, sicherlich angebracht. Letztlich liegt darin ja auch ein Stück weit der Sinn für die  Verschreibungspflicht (!) von Arzneimitteln resp. der ärztlichen Kontrolle. Das kann aber kein Grund sein, einen kompletten Therapieansatz in Frage zu stellen.

Vor diesem Hintergrund und angesichts der zitierten Literatur wäre vielleicht „Patientenkritik“ oder „Ärztekritik“ als Überschrift treffender gewesen – anstelle von „Therapiekritik“. Für den unvernünftigen Umgang mit dem Medikament resp. den Missbrauch des Medikaments durch Patienten kann die „Therapie“ nämlich nichts. Genauso wenig wie für eine unadäquate Verschreibungspraxis, denn einem Großteil der Patienten aus den Referenztexten hätte Baclofen nach einer sorgfältigen Anamnese ambulant gar nicht erst verschrieben werden dürfen (Stichworte: Ausschlusskriterien, Wechselwirkungen, persönliche Lebensumstände).

Lassen wir uns also nicht in die Irre führen: Der Arznei-Telegramm-Text und auch die darin zitierten Studien spiegeln nur einen äußerst kleinen Bruchteil aller Baclofennutzer wider – nämlich die im Verhältnis verschwindend geringen Vergiftungsfälle nach (meist) vorsätzlich eingenommener Überdosis. Demgegenüber stehen mittlerweile zigtausende Patienten, die mit Baclofen erfolgreich ihre Alkoholabhängigkeit behandeln. Und die sich das Medikament nicht aufgrund von Suizidgedanken verschreiben lassen, sondern, weil sie sich davon Unterstützung auf dem Weg aus ihrer Abhängigkeit erhoffen und eine bessere Lebensqualität anstreben. Also in einem „lebensbejahenden“ Sinne.

a-t: „Entwicklung einer Baclofenabhängigkeit mit Dosissteigerung bis auf 500 mg pro Tag ist beschrieben (20).“

Wenn es nicht schwarz auf weiß da stünde – man würde es nicht glauben: Im Referenztext (20) vom Januar 2016 (!) wird allen Ernstes immernoch behauptet, dass Baclofen zwar ein GABA-B-Agonist sei, aber aufgrund der Strukturverwandtschaft mit GABA auch am GABA-A-Rezeptor wirke und deshalb abhängig machen könne. Die Autoren berufen sich bei dieser irrtümlichen Annahme auf einen älteren Text von Olmedo & Hoffmann (2000), der wiederum von Nasti & Brakoulias (2011) aufgegriffen und von den im Arznei-Telegramm zitierten Autoren Akosile & Klan (2016) deshalb wohl als „verifiziert“ eingestuft wurde. Im konkreten Fallbeispiel geht es aber – entgegen der Behauptung im Arznei-Telegramm – nicht um eine Baclofenabhängigkeit bei einer Dosissteigerung bis 500 mg, sondern vielmehr um Entzugserscheinungen nach abruptem Absetzen von Baclofen bei einer Dosishöhe von 500 mg, die denen eines Alkohol- oder Benzodiazepinentzugs ähnelten. Hier hätte eine kompetente Aufklärung des behandelnden Arztes mit dem Hinweis, dass Baclofen genau wie z. B. Antidepressiva oder Neuroleptika langsam ausgeschlichen werden muss, genügt, um Schlimmeres zu verhindern..

a-t: „Auch Rückfälle gefährden alkoholabhängige Patienten unter Therapie mit hochdosiertem Baclofen. Beschrieben sind Krampfanfälle und schwere Sedierung bei gleichzeitigem Alkoholkonsum (21,22).“

Alkohol ist in Kombination mit einer Vielzahl von Medikamenten ein Problem. Baclofen macht hier keine Ausnahme. Vollkommen richtig: Viel Alkohol und viel Baclofen können Komplikationen verursachen. Komischerweise schien das z. B. bei Disulfiram jahrelang kein Problem zu sein. Gleiches gilt für Benzodiazepine. Warum wird also Baclofen wieder explizit heraus gegriffen? Zumal es vielversprechende Hinweise darauf gibt, dass Betroffene potentielle Rückfälle unter Baclofen schneller wieder beenden können und dass das Medikament auch beim Entzugssyndrom lindernd wirken kann. Fast schon amüsant: Der selbe Autor (Benjamin Rolland), dessen Texte hier als Referenzen fürs Arznei-Telegramm herhalten, hat sich in den Empfehlungen der Société Française d’Alcoologie letztes Jahr positiv zur Rückfallprophylaxe und Trinkmengenreduktion mithilfe von Baclofen geäußert:

The second-line prescription of baclofen, up to 300 mg/day, to prevent relapse or reduce drinking should be carried out according to the “temporary recommendation for use” measure issued by the French Health Agency (EC).

 

a-t: „Bei abruptem Absetzen des Gamma-Aminobuttersäure (GABA)-Analogs droht zudem ein Entzugssyndrom, das mit Verwirrtheit und Halluzinationen ähnlich wie beim akuten Alkoholdelir verlaufen kann (23).“

Hier kann ich mich nur wiederholen und an die verschreibenden Ärzte appellieren, ihre Patienten darauf hinzuweisen: Genau wie z. B. Antidepressiva oder Neuroleptika sollte auch Baclofen nicht abrupt abgesetzt, sondern langsam ausgeschlichen werden.

Das Fazit im Arznei-Telegramm lautet schließlich:

a-t: „Nach wie vor fehlen aussagekräftige Nutzenbelege für den Off-label-Gebrauch von (hochdosiertem) Baclofen (LIORESAL, Generika) zur Alkoholentwöhnung.“

Hier wird einmal mehr die Inkonsequenz der Arznei-Telegramm-Redaktion deutlich: Als Beleg für deren so genannte „Therapiekritik“ genügen klein(st)e Fallanalysen, aber die randomisierten, placebokontrollierten, doppelblinden Untersuchungen, die den Nutzen der Baclofen-Therapie stützen, werden den Ansprüchen nicht gerecht. Stattdessen spekuliert man, warum die Ergebnisse der umfangreichen Studien Bacloville und Alpadir wohl noch nicht vorliegen, erwähnt aber mit keinem Wort, dass diese Anfang September im Rahmen des Deutschen Suchtkongresses 2016 in Berlin präsentiert werden soll.

a-t: „Es mehren sich jedoch Berichte über Schadwirkungen, darunter lebensbedrohliche Intoxikationen, schwere Sedierung, Krampfanfälle und Entzugssyndrom.“

Auch hier kann ich mich nur wiederholen: Dass sich sowohl Berichte über Therapieerfolge als auch Berichte über unerwünschte Arzneimittelwirkungen mehren, wenn das Medikament verstärkt zum Einsatz kommt, ist eine logische Konsequenz. Die Verkaufszahlen von Baclofen haben sich seit 2008 nahezu vervierfacht. Fakt ist, dass die positiven Berichte zu Baclofen bei Alkoholabhängigkeit bei weitem überwiegen (siehe oben).

a-t: „Wir erachten die Nutzen-Schaden-Bilanz nach wie vor als negativ.“

Das ist kein Wunder, wenn man sich „tunnelblickgleich“ nur für die Kontra-Seite interessiert.

Unterm Strich bleibt doch festzuhalten: Im Patienten steckt man nicht drin. Wenn dieser ein Medikament missbrauchen will (und Vorsatz spielte eine große Rolle in den Referenztexten), ist das mit jedem Medikament möglich. Baclofen bildet da keine Ausnahme. Wenn Ärzte bestmöglich „überwachen“, aufklären, gewissenhaft verschreiben, eine sorgfältige Anamnese vornehmen und die Patienten motiviert mitarbeiten und keine „Experimente“ eingehen, bleibt die Baclofen-Therapie unseres Erachtens die beste medikamentengestützte Behandlungsmöglichkeit bei Alkoholabhängigkeit, die wir momentan haben. Nicht zuletzt die Erfahrung zeigt, dass Betroffene sich um eine Verschreibung des Medikaments bemühen, um ihre Lebenssituation zu verbessern und nicht mit dem Ziel, sich das Leben zu nehmen. Dafür gibt es wahrlich geeignetere Substanzen. Wenn jemand es trotzdem mit Baclofen versucht, dann wahrscheinlich aus einer tiefen Verzweiflung heraus und mangels Alternativen. Das kann aber wahrlich kein Grund für ein pauschales Anzweifeln der kompletten Therapieoption sein.

Die Referenzen, auf die sich das Arznei-Telegramm bezieht, samt kommentierter Zusammenfassungen finden Sie hier:

(16) Pape, E. et al. (2014). Death of an Alcohol-Dependent Patient following Intentional Drug Intoxication: Implication of Baclofen? (European Addiction Research)
(17) Franchitto, N. et al. (2014). Self-Intoxication with Baclofen in Alcohol-Dependent Patients with Co-existing Psychiatric Illness: An Emergency Department Case Series (Alcohol and Alcoholism)
(18) Pommier, P. et al. (2014). Severity of Deliberate Acute Baclofen Poisoning: A Nonconcurrent Cohort Study (Basic & Clinical Pharmacology & Toxicology)
(19) Charifou, Y. et al. (Article in Press). Baclofen intoxication cases in an intensive care unit (Anaesthesia Critical Care & Pain Medicine)
(20) Akosile, W. & Klan, M. (2016) Creating a new problem: The use of baclofen in the management of alcohol use disorder (Drug and Alcohol Review)
(21) Rolland, B. et al. (2015). Baclofen For Alcohol Dependence: Relationships Between Baclofen And Alcohol Dosing And The Occurrence Of Major Sedation (European Neuropsychopharmacology)
(22) Rolland, B. et al. (2012). A Case of De novo Seizures Following a Probable Interaction of High-Dose Baclofen with Alcohol (Alcohol and Alcoholism)

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